1976.
Mit dreizehn Jahren war ich eindeutig zu unausgelastet, so dass meine Eltern beschlossen, mir irgendeine Form von sportlicher Betätigung ans Herz zu legen. Auf eigenen Wunsch machte ich ein Probetraining in einem Karate-Dojo. Katastrophe. Bis heute frage ich mich, wie die ihren Nachwuchs gekriegt haben, denn obgleich das Training vereinbart war, wusste niemand so recht was mit dem spillerigen Kind mit der roten Turnhose anzufangen – alle anderen hatten diese schicken weißen Anzüge an. Liegestütze auf den Fingerknöcheln konnte das Kind auch nicht.
Tränen.

Eine Woche später wurde mein Vater dann tätig, ich selbst wollte natürlich ‚jetzt gar nichts mehr mit Sport zu tun haben, weil alle doof sind‘; aber dennoch fand ich mich erst im Auto, dann auf dem Sportplatz an der Berliner Straße in Wiesbaden wieder, wo ein sehr schmaler, sehr bärtiger Mann mit lauthals lachenden Augen mir als mein Trainer vorgestellt wurde.
‚Hallo Peter, ich bin der Alfred.‘
So begann bei Eintracht Wiesbaden meine Leichtathletik-„Karriere“.
Alfred war Läufer. Zuerst mal.
Er war auch ausgebildeter Übungsleiter, um es Deutsch zu sagen. Genau, Deutsch. Könnte Deutsch nicht mehr wie Alfred sein? Bescheiden, pfiffig, entspannt, fokussiert und freundlich?
Ja, vermutlich nicht. Schade.
Aber ich bin ein Komet, ich schweife ab.

Alfred war Läufer. Also liefen wir auch. Alle miteinander, eine Bande Kinder von 11 bis 15 Jahren, ständig in Konkurrenz, ständig füreinander da. Und Alfred zeigte uns Leichtathletik. Wir haben alles ausprobieren dürfen/müssen.1 Wir stießen Kugeln, warfen Disken und Speere, sprangen hoch und weit, vor allem aber liefen wir.
Steigerungsläufe diagonal über den Platz, dann Traben entlang der Schmalseite und wieder diagonal in die andere Richtung. Immer schneller werdend. Feine Sache, außer eins macht es zwanzigmal. Das war die Alfredsche Dimension. Irgendwie schaffte er es aber auch immer, die Müdesten unter uns noch zu motivieren. Immer freundlich, immer mit Verständnis. Niemals habe ich Alfred laut erlebt.
Zwei- bis dreimal die Woche trainierten wir. Im Winter zwei Tage in der Halle, am Wochenende Waldläufe. Alfred hatte ein schier endloses Repertoire an Trainingsmethoden und Laufschulungen und auch wenn mir das viele Laufen auf den Zeiger ging, weil es mich – gefühlt – von meinem geliebten Hochsprung abhielt, bin ich bis heute glücklich, so viel über Koordination und Bewegung gelernt zu haben. Von Alfred, der mein Trainer blieb, bis ich vier Jahre später in die Hochsprunggruppe von Harald wechselte. Aber natürlich sahen wir uns immer auf dem Platz und bei Wettkämpfen. So ein bisschen war Alfred auch mein Papa, eine verständnisvolle (weil nicht so oft involvierte ;-) ) und entspannte Vaterfigur, die nicht nur auf dem Sportplatz Einfluss auf mich hatte.
Es folgten sportärmere Zeiten, Arbeit, Ehe, Kind, Band bekamen mehr Aufmerksamkeit und Zeit, aber jedes Jahr würde die Eintracht anrufen und fragen, ob ich nicht zu den Mannschaftsmeisterschaften kommen würde. Hochsprung bringt viele Punkte und 2,00m bis 2,05m sprang ich jederzeit ohne Training.
Alfred würde sich eins grinsen dann und wir hatten immer einen schönen Schwatz auf dem Platz.

Anfang der 90er rückten Verein und Sport für mich wieder mehr in den Vordergrund, 1989 war ich im Freien höher denn je gesprungen, 1992 dann meine ewige Bestleistung in der Halle.
Und dann waren da die Vorsaison-Trainingslager im Frühjahr.
1997 und 1998 fanden diese in San Sebastian statt – der Partnerstadt von Wiesbaden; und nicht nur ich habe mich in Stadt, Land, Meer und alles dort drumherum verliebt.
1998 nahmen Alfreds Läufergruppe und er selbst am Trainingslager teil. Wenn wir ‚Erwachsene‘ abends der reichhaltigen Gastronomie-Szene in San Sebastian unsere Aufwartung zuteil werden ließen, war Alfred dabei. Spanisch war nicht seine Muttersprache und er beschränkte sich aufs Wesentliche. Wir Jungspunde haben sein ‚Un tinto, por favor‘ – ein Gläschen Rotwein am späten Abend und das selten – natürlich nicht durchgehen lassen und ihn direkt ‚El Tinto‘ getauft.
Ich seh sein verschmitztes Grinsen noch, dort in dem Restaurant.
Time flies und Anfang der 2000er war ich aufgrund von Job und Hausbau noch selten sportlich tätig. 2004 nach dem Unfall ging ohnehin nichts mehr.
Meine Kontakte nach Wiesbaden liefen langsam aus und Alfred habe ich seit 2002 nicht mehr gesehen, zuletzt traf ich ihn beim Training in der Halle an der Wettiner Straße – er leitete er eine Gymnastikgruppe (mit über 70 Jahren auf dem Zähler ;-) )und manch eine*r wäre froh, mit 30 diese Beweglichkeit und Kraft zu haben.

Hin und wieder hörte ich dann doch noch was, zuletzt von meiner Mutter 2010, als Alfred im Wiesbadener Kurier zu Recht eine Seite zu seinem 80stem Geburtstag gewidmet wurde ((siehe Zeitungsbericht neben) – tatsächlich war er derselbe Jahrgang wie mein Vater.
Und zu dieser Zeit war er immer noch aktiv und fit.
Zehn Jahre später ist Alfred nun mit 90 Jahren gestorben.
Ich schätze, nicht nur einigen der Kinder von damals wird er für immer unvergesslich bleiben.
Für mich in jedem Fall. Ich bin dankbar.


Nachwort:
Faktisch ist dieses Post vom 29.1.2023, aber ich habe es der guten Absicht wegen zurückdatiert.


Headerbild von Michal Jarmoluk auf Pixabay


Show 1 footnote
  1. Mein erster Wettkampf waren die Bezirksmeisterschaften 1977. Speerwerfen. 17. von 19. Immerhin :-D

sparta

Antifascist. He/His. Get vaccinated. Wear a mask. Jede*r anders, alle Drama. Quality misunderstandings since 1963. Change is constant.

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